Círculo de Bellas Artes/Salle Picasso, Madrid
06/02/2021 — 08/22/2021
The Walther Collection präsentiert in Zusammenarbeit mit PhotoEspaña und kuratiert von Elvira Dyangani Ose die Sammlungsschau Momente des Sozialen: Porträtfotografie und kollektive Handlungsmacht. Afrikanische Fotografie aus der The Walther Collection im Círculo de Bellas Artes in Madrid. Die Ausstellung hebt die Werke afrikanischer Künstlerinnen und Künstler hervor, die stellvertretend für einen postmodernen Paradigmenwechsel stehen. Sie fordern das Nachdenken über biopolitische Zusammenhänge, neokoloniale Kritiken, den Kampf für Geschlechtergleichstellung, die Wiederbelebung von Ritualen und Multi-Spezies-Theorien – ein politischer Aufruf dem Kollektiv Handlungsmacht zuzusprechen. Dieser Aufruf ist einer der augenfälligsten Aspekte der Fotografie, der in den letzten 50 Jahren von Künstlerinnen und Künstlern des afrikanischen Kontinents und seiner Diaspora geschaffen wurde. Die Künstlerinnen und Künstler legen den Fokus darauf die Idee einer ‚Andersartigkeit‘ des Kontinents und seiner Diaspora abzuschaffen; es sind jene Geschichtenerzähler*innen und unzählige Poetiken, die den Status quo hinterfragen und dabei versuchen eine kollektive Vorstellung davon ins Leben zu rufen, wie kulturelle Identität formuliert wird: diese Identität ist eine Art Tabula rasa, ein Startpunkt gesellschaftlicher Prozesse, der die impliziten und historisch gewachsenen Gewaltstrukturen stets mitdenkt.
In The Black Photo Album / Look at Me: 1890 - 1950 nutzt der südafrikanische Fotograf Santu Mofokeng alte Fotografien aus Familienalben um eine neue Taxonomie zu schaffen, die der kolonialen Klassifizierung der Schwarzen als bloße Gegenstände ethnografischer Studien entgegenwirken. Das Projekt gibt der betrachtenden Person die Möglichkeit darüber zu reflektieren, wie die Menschen sich selbst sehen wollen, der vermeintlichen Objektivität der Studiofotografie gewahr und darauf hoffend, dass sie sich durch die Ermächtigung des Mediums ihr Menschsein zurückholen können. - Elvira Dyangani Ose
Ausgangspunkt ist die 2010 präsentierte Eröffnungsausstellung der The Walther Collection Momente des Selbst: Porträtfotografie und soziale Identität. Sie wurde von dem bedeutenden Kurator und Wissenschaftler Okwui Enwezor entwickelt, der die Sammlung und ihre Ausrichtung mit seinem Schaffen maßgeblich geprägt hat. Ein Jahrzehnt später wird nun untersucht, wie die eigenmächtige Gestaltung von Identität jenseits kolonialisierter Konstrukte eine der wichtigsten Aufgaben für afrikanische Fotografinnen und Fotografen war und weiterhin ist. Die hiermit verbundenen visuellen Diskurse bieten eine Plattform, um nicht nur über Identitätskonstruktion zu reflektieren, sondern ebenso über die betrachtende Person, die eine genauso wichtige Rolle in der fotografischen Praxis spielt. Die Ausstellung beleuchtet über 10 Jahre des Sammelns, Kuratierens und Ausstellens afrikanischer Fotografie.
Momente des Sozialen: Porträtfotografie und kollektive Handlungsmacht ist in fünf Kapitel gegliedert, die sich auf jeweils einen Aspekt des Leitmotivs konzentrieren.
Restrukturierung des Selbst beschäftigt sich mit Einzel- und Gruppenporträts, die im Studio oder auf der Straße aufgenommen wurden. Sie bieten Platz für die aktive Suche nach Typologien und Erzählungen im persönlichen, direkten Umfeld. Als eines seiner bahnbrechendsten Werke zeigt Santu Mofokengs The Black Photo Album / Look at Me: 1890 - 1950 eine Sammlung von rund dreißig Bildern von Mitgliedern der Arbeiter*innen- und Bürger*innenklasse und stellt ein einzigartiges Archiv einer städtischen, gebildeten, christlichen Gemeinschaft dar, deren Existenz in den frühen 1950er Jahren, als die südafrikanische Regierung die Rassentrennung gesetzlich verankerte, bedroht wurde. Mofokengs taxonomische Geste restrukturiert – im Gegensatz zur obsessiven Klassifizierung von Kimberleys Bantu-Bildern, die in Duggan-Cronins Werk gesammelt wurden –das Konzept des Schwarzen Subjekts.
Porträtfotografie ist das wichtigste Werkzeug von Fotografen wie Seydou Keïta, Malick Sidibé und J.D ‘Okhai Ojeikere. Sie nutzen das Genre, um mystische Vorurteile im Hinblick auf den Alltag und die Kultur afrikanischer Städte abzubauen. Wenn moderne Fotografinnen und Fotografen sich dazu entscheiden, ihre persönliche Identität durch verschiedene Arten von Selbstdarstellung neu zu definieren, dann bietet der postmoderne Paradigmenwechsel die Möglichkeit, außerhalb des direkten Umfelds experimentelle Fantasien und Proteste zu erproben. Wie in Werken von Jodi Bieber und Zanele Muholi ersichtlich, werden alternative Ästhetiken genutzt, um die Automatisierung kanonischer und vorab definierter Konzepte von Schönheit und Femininität zu überwinden.
Es ist diese externe Position, die den Blick des ‚Anderen‘ unerlässlich macht – der nach dem Kontext verlangt, in dem sich diese Blicke kreuzen. Hierin liegt der Schlüssel, die raison d’être der Fotografie als soziales Ereignis, als Dialog und als Ursprung kollektiver Handlungsmacht. - Elvira Dyangani Ose
Der politische Körper stellt den Körper als politisches Schlachtfeld dar. Es werden Werke gezeigt, die sich gegen soziale Imperative und bestimmte sexuelle und geschlechtliche Orientierungen auflehnen. Dabei rufen sie Manifestationen ökonomischer, kultureller und politischer Ungleichheiten ins Gedächtnis. Sie sind Zeugen der anhaltenden kolonialen Kompartimentierung und der modernen Rhetorik, die die Dichotomie von "Wir und Sie" aufrechterhält, während sie gleichzeitig auf eine mögliche Rekonfiguration konventioneller Repräsentation anspielen. Das Kapitel besteht aus Werken, die den Körper als Austragungsort innerer, teilweise auch neo-kolonialistischer, Kämpfe verstehen. In ihnen werden kolonialisierte Körper unmittelbar ersetzt durch solche, die verarmt, gefangen oder schlichtweg marginalisiert sind – eine Verschiebung, die in den Werken von Fotografinnen und Fotografen wie Yto Barrada, Mikhael Subotzky und Guy Tillim ersichtlich wird. Es sind einerseits Versuche den Diskurs über kulturelle, geopolitische und sozioökonomische Unterschiede zu rekonstruieren, und andererseits Experimente, die Narrative bestimmter Gruppen und Erzählungen neu zu schreiben. Hierdurch entstehen neben den neuen Sujets auch Veränderungen der zeitlichen Rahmenbedingungen sozialer Repräsentation.
Persönliche Narrative ist Bildern gewidmet, die dazu fähig sind, jeden erdenklichen Moment darzustellen und die so möglich machen, die innerste Gegenwart der Autorin oder dem Autor zu dokumentieren. Das Kapitel umfasst Werke, in denen Poesie an die Stelle von Serialität tritt und die betrachtende Person von intimen Erzählungen umhüllt wird. Die ruhige Präsenz der Figuren in Nontsikelelo Veleko’s Werk strahlt Nostalgie aus; sie sind sich ihres exponierten Erscheinungsbildes bewusst und nutzen auf charismatische Art und Weise Mode, um neue Formen von Selbstdarstellung zu etablieren. In Her-Story, Ke Lefa Laka (2012-2013) verwendet die Künstlerin Lebohang Kganye Mehrfach- oder Doppelbelichtungen, um ihrer kürzlich verstorbenen Mutter wiederzubegegnen. Sie hebt mithilfe dieser Geste auf eine Weise die Zeit auf, wie es nur Fotografie möglich macht. Diese und die weiteren gezeigten Werke ebnen den Weg für eine neue Typologie, die die Empfindsamkeiten, Schicksale und Ziele vieler junger Afrikanerinnen und Afrikaner verdeutlicht.
Anatomie der Landschaft zeigt die tiefe Verbundenheit des fotografischen Mediums mit der Kolonialgeschichte auf. Künstlerinnen und Künstler wie David Goldblatt und Santu Mofokeng legen in ihren Werken den Einfluss von Ideologien offen, die die Apartheid bestimmt haben. Die Fotografin Jo Ractliffe nutzte für ihre Serie Diana Archive (2004) eine Lomographiekamera aus Plastik. Die Serie hinterfragt gleichermaßen die Bedeutung von Wahrheit im Medium Fotografie und die Montage südafrikanischer Geschichte. Wie in den Arbeiten von Em’kal Eyongapka sind die Landschaftsstrukturen gleichzeitig unberührbar und materiell. Das Land ,spricht‘ simultan mit dem Trauma, widersetzt sich diesem und enthält es. Die Geister der Ahnen werden in der Landschaft durch traditionelle Zeremonien und Rituale heraufbeschworen, wie in den Werken Theo Eshetus.
Desillusionierung und Ermächtigung reflektiert wichtige historische Ereignisse und Schlüsselfiguren von Unabhängigkeitskämpfen. In seiner Serie African Spirits (2008) stellt Samuel Fosso in Selbstporträts bedeutende Repräsentantinnen und Repräsentanten des Pan-Afrikanismus dar. Zanele Muholi hingegen fordert eine Veränderung der Geschichtsschreibung, an der auch marginalisierte Gruppen teilhaben und die der Sichtbarkeit von LGBTQIA+-Aktivist:innen dient.
Momente des Sozialen: Porträtfotografie und kollektive Handlungsmacht verkörpert die Idee des Sammlers Artur Walther, Fotografie und Geschichte des afrikanischen Kontinents durch seine Sammlung, aber auch eine Reihe von Publikationen und einem internationalen Ausstellungsprogramm nachvollziehen zu können. Es bietet der breiten Öffentlichkeit sowie Expertinnen und Experten die Chance, Wissensstrukturen zu untersuchen, die auf Fotografie aufbauen. Das Gesamtprojekt der Collection wurde über die letzten zehn Jahre durch einen internationalen und interdisziplinären Dialog unter bedeutenden Fachleuten konzipiert. Als Ausgangspunkt diente hierbei Okwui Enwezor’s ursprüngliche Betrachtung von Porträtfotografie und wie diese Taxonomie und Theatralität als Faktoren kontextualisiert, die sozialen Wandel und Identitätsbildung ermöglichen. Momente des Sozialen: Porträtfotografie und kollektive Handlungsmacht konzentriert sich auf Bildwelten, die in Afrika entstehen; sie repräsentiert dabei aber auch das Ziel der Collection, die Fotografie des Kontinents und seiner Diaspora als einen Raum von globaler, menschlicher Bedeutung auszustellen, zu entdecken und zu untersuchen.
© Sebastian Bejarano
Elvira Dyangani Ose ist Kuratorin und Autorin und lebt in Barcelona. Im Juli 2021 wurde sie zur Direktorin des Museu d'Art Contemporani de Barcelona (MACBA) ernannt, eine der angesehensten Kunstinstitutionen Spaniens. Seit 2018 ist Dyangani Ose Direktorin und Chefkuratorin des The Showroom in London, der darauf spezialisiert ist ortsspezifische Ausstellungen von Nachwuchskünstlerinnen und -künstlern zu präsentieren. Zuvor war Dyangani Ose Kuratorin für internationale Kunst an der Tate Modern, London, Kuratorin für zeitgenössische Kunst am Centro Andaluz de Arte Contemporáneo (CAAC), Sevilla, und leitende Kuratorin bei Creative Time, New York. Außerdem war sie künstlerische Leiterin der Rencontres Picha - Lubumbashi Biennale in der Demokratischen Republik Kongo und Kuratorin der Internationalen Biennale für zeitgenössische Kunst in Göteborg.
PHotoESPAÑA ist ein internationales Fotofestival, das jedes Jahr in Madrid, Spanien, ausgerichtet wird. Seit 1998 hat es sich als größtes Fotofestival in Spanien und als eine Referenzveranstaltung für die Welt der Fotografie und der bildenden Kunst etabliert.
Círculo de Bellas Artes/Salle Picasso, Calle de Alcalá, 42 28014, Madrid, Spain