5.12.2019 — 15.3.2020
The Walther Collection zeigt mit Taking Stock of Power: An Other View of the Berlin Wall ein Langzeitprojekt des Fotografen Arwed Messmer und der Autorin Annett Gröschner, das in mehreren Jahren gemeinsamer Archivarbeit und Recherche entstand. Die Ausstellung eröffnet im Rahmen des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls und reflektiert sowohl die Brutalität der physischen Präsenz der Mauer als auch ihre politische Symbolik, die heute in anderen gesellschaftspolitischen Kontexten wieder auftauchen.
Taking Stock of Power basiert auf umfangreichen Recherchen in den bislang unerforschten Archiven der DDR-Grenzbehörden. Messmer und Gröschner entdeckten tausende Kleinbildfotografien der Mauer, die jahrzehntelang geheim gehalten worden waren, und rekonstruierten aus diesen Bildern eine umfassende visuelle Topographie der Berliner Mauer in Form von Panoramasequenzen. Einige dieser Panoramen sind in der Ausstellung zu sehen, ebenso wie typografische Bilder von anderen Elementen des ostdeutschen Grenzschutzes, beispielsweise Wachtürme, unterirdische Tunnel und Rettungsleitern. Diese künstlerische Aneignung und Interpretation lassen die Mauer – und die damit verbundenen Überwachungstechnologien – als berüchtigte urbane Struktur wieder aufleben und enthüllen gleichzeitig die Instrumente und Ästhetik der politischen Macht.
Die Bilder der Mauer, die Messmer und Gröschner später zu Panoramen verarbeiteten, wurden Mitte der 1960er Jahre von Soldaten auf Befehl der Grenztruppenführung aufgenommen. Privatpersonen war es strengstens verboten, die Mauer im östlichen Teil der Stadt zu fotografieren. Diese Fotografien erfüllten ausschließlich einen rein funktionalen Zweck: Sie sollten den baulichen Zustand der Mauer erfassen, die in ihren Anfangsjahren in Form und Material sehr unterschiedlich war, und so Ingenieure bei der Planung einer Reihe von Renovierungen und Verstärkungen zu unterstützen. Tatsächlich wirken einige der dargestellten Grenzanlagen eher provisorisch, weit entfernt von den Bildern der industriell hergestellten, widerstandsfähigen Betonmauer, die ein Jahrzehnt später, Mitte der 70er Jahre, entstanden sind.
Die einzelnen Panoramasequenzen sind jedoch nicht zwangsläufig als eigenständige Bilder relevant. Der Ansatz von Messmer und Gröschner ist eher konzeptionell und strebt nach einer möglichst vollständigen visuellen Darstellung der insgesamt 160 Kilometer der Berliner Mauer, die die Stadt durchzogen. Taking Stock of Power zeigt diese umfassende "Dokumentation" mithilfe von 12 großformatigen Bänden, die auf einem langen Tisch liegen und damit auf einen Lesesaal sowie den Archivkontext des Materials verweisen. Ergänzt werden diese Panoramen durch Zitate aus den Tagesberichten der Grenzschutzbeamten, in denen die Vorfälle an den dargestellten Orten detailliert beschrieben werden.
Ausgehend von dieser topographischen Bestandsaufnahme ergänzen mehrere Bilder von Wachtürmen der ostdeutschen Grenztruppen entlang der Mauer die Ausstellung. Einige wirken in ihrer Konstruktion etwas behelfsmäßig und erinnern in ihrer rasterförmigen Hängung an die Architekturtypologien von Bernd und Hilla Becher. Eine weitere Serie zeigt anonymisierte Identifikationsfotos von Soldaten des DDR-Grenzregiments – Zwangsrekrutierte für eine Dauer von 542 Tagen – in identischen Uniformen und Posen. Bilder von unterirdischen Fluchttunneln und Leitern, die nach erfolgreichen Fluchten zurückgelassen wurden, verweisen deutlich auf den Wunsch, diese physische und politische Barriere zu durchbrechen, aber auch auf die Bemühungen der Grenztruppen, solche Handlungen zu dokumentieren, um sie dadurch künftig zu verhindern. Zusammen mit den rekonstruierten Bildern der Mauerabschnitte veranschaulicht das Inventar der ostdeutschen Grenzbehörden die beunruhigenden Ausmaße der Überwachungsinfrastruktur und verweist auf die menschlichen Dimensionen dieses Apparats.
In seiner Gesamtheit ist Taking Stock of Power eine fiktive Dokumentation einer ganzen Struktur, die Messmer und Gröschner nie in dieser Form angestrebt hatten. Dennoch ist die dokumentarische und affektive Lesbarkeit der Aufarbeitung viel besser als beim Rohmaterial. Messmer und Gröschner erklären: "Es ist diese überwältigende Masse von Bildern, die eine verletzliche und verletzte Landschaft und die ästhetischen Folgen der Entscheidung, ein Land durch eine physische Barriere zu trennen, zeigt. Die Sprache der Akten und Bilder veranschaulichen das damalige Gefüge – eine scheinbar endlose Barriere gegen die eigene Bevölkerung des ostdeutschen Staates."
Das Projekt von Messmer und Gröschner verdeutlicht, wie massiv die Mauer in die Topographie der Stadt eingegriffen hat. Gleichzeitig vermittelt es, wie viel Mühe, Kraft, Gewalt und Kapital es braucht, um Menschen daran zu hindern, ihre Freiheit zu leben. Und dass Mauern nicht ewig Bestand haben.
Die im Project Space gezeigte Ausstellung Taking Stock of Power: An Other View of the Berlin Wall präsentiert Ausschnitte aus dem größeren gleichnamigen Projekt, das 2016 erstmals im Haus am Kleistpark in Berlin gezeigt wurde. Im selben Jahr zeichnete der Paris Photo – Aperture Foundation PhotoBook Award den umfangreichen Begleitkatalog in der Sparte "Special Jurors' Mention" als Fotobuch des Jahres aus. Dieses Mammutwerk besteht aus einer eindrucksvollen bildlich-dokumentarischen Sammlung von rund 5000 Einzelaufnahmen und 1000 digital zusammengestellten Panoramasequenzen. Umfangreiche Textdokumente, wie etwa lange Inventarlisten der an der Grenze eingesetzten Wachhunde mit ihren Eigenschaften und Krankheiten, Fluchtskizzen und komplexe Textcollagen, die historische Ereignisse und die sprachliche Ästhetik der Akten thematisieren, ergänzen die Bilder. Messmer und Gröschner nutzten das bisher unorganisierte Material nicht nur für ihre künstlerischen Intervention, sondern digitalisierten und inventarisierten es in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundesarchiv, sodass es nun interessierten Forschern zur Verfügung steht.
Arwed Messmer wurde 1964 in Schopfheim geboren und lebt seit 1992 in Berlin. Nach einer frühen Serie von Panoramaaufnahmen über ostdeutsche Landschaften zu Beginn der 1990er Jahre, widmete sich Messmer in seiner künstlerischen Arbeit immer wieder dem Wandel des Berliner Stadtbilds. Seit 2006 konzentriert er sich auf Bildsammlungen in Archiven und beschäftigt sich mit Fotos, die ihre ursprüngliche dokumentarische Funktion verloren haben. Aus diesen Untersuchungen sind umfangreiche Ausstellungen und Publikationen über das Ostberlin der 1950er Jahre, die Anfänge der Berliner Mauer und das Stasi-Archiv (teils in Zusammenarbeit mit der Autorin Annett Gröschner) entstanden. Im Jahr 2014 erhielt er von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung ein Stipendium für zeitgenössische deutsche Fotografie für das Projekt RAF – No Evidence, das 2018 wiederum für den Preis der Deutsche Börse Photography Foundation nominiert wurde.
Annett Gröschner wurde 1964 in Magdeburg geboren und lebt seit 1983 in Berlin. Als freiberufliche Autorin und Journalistin veröffentlicht sie Romane, Erzählungen, Theaterstücke und literarische Sachbücher. In ihren Texten beschäftigt sie sich vor allem mit Fragen der sozialen Transformation in Berlin und Ostdeutschland und nutzt dafür häufig Archivmaterial. Seit 1992 arbeitet sie mit Arwed Messmer an gemeinsamen Ausstellungs- und Buchprojekten, die die Anfänge der Berliner Mauer, die Atomindustrie, den Uranbergbau in der DDR und Berlin nach dem Krieg thematisieren.