9.6.2024 — 30.3.2025
Wer wir sind ist der erste Teil einer dreijährigen Ausstellungsreihe, die sich mit vernakularer Fotografie beschäftigt – der großen Gruppe alltäglicher Bilder, die unser Leben prägen und definieren. Die Vielfalt an Materialien und kreativen Formen der vernakularen Fotografie scheint unendlich zu sein. Die Ausstellung zeigt verschiedene Kategorien dieser Bilder, beispielsweise Familienfotos und private Schnappschüsse, Fotoalben, ethnografische und wissenschaftliche Fotografie, oder auch Fahndungs- und Passfotos. Was diese Fotografien vereint, ist nicht eine Ästhetik oder ein Stil, sondern ihre Funktionalität: Sie sind nützlich und zweckgerichtet.
Diese Ausstellung konzentriert sich auf die Porträtfotografie und untersucht, welche Einflüsse dieses Genre auf die Ausprägung individueller und kollektiver Identität hat. Ähnlich dem klassischen Porträt scheinen auch diese Bilder von der neuzeitlichen Faszination für das Individuum, die Identität und das menschliche Gesicht geprägt zu sein. Doch im Gegensatz zu klassischen Porträts dienen diese Fotos vor allem praktischen, persönlichen, kommerziellen und bürokratischen Zwecken. Sie vermeiden die Betonung des individuellen Charakters und stellen stattdessen sozial geprägte Merkmale von ethnischer Zugehörigkeit, Klasse, Geschlecht, Sexualität und Status in den Vordergrund.
In fünf thematische Abschnitte gegliedert, verteilt sich Wer wir sind auf die vier Gebäude des Museumsgeländes: „Jenseits des Porträts“ und „Das fotografische Objekt“ im Weißen Kubus, „Dekolonisiert: Veränderte Sichtweisen der afrikanischen Identität“ im Grünen Haus, „Fotoalben: Archive des täglichen Lebens“ im Schwarzen Haus sowie „Darstellung von Gender und Identität“ im Grauen Haus. Diese Fallstudien sind zwar nicht umfassend, bieten aber neue Perspektiven auf vertraute Bilder und die sozialen Geschichten des täglichen Lebens.
Klassischerweise wird ein gemaltes oder fotografisches Porträt als ehrwürdige Darstellung einer Person betrachtet, die ihr charakteristisches Wesen und ihre soziale Stellung reflektieren soll. Die Ausstellung im Hauptraum des Weißen Kubus betrachtet das Genre des Porträts im Bereich der vernakularen Fotografie neu und legt nahe, dass es sich nicht bei allen fotografischen Abbildungen von Personen um klassische Porträts handelt. Vielmehr handelt es sich bei diesen Bildern einfach um Aufzeichnungen menschlicher Gesichter, die erstellt wurden, um Einzelpersonen innerhalb sozialer Hierarchien und bürokratischer Archive einzuordnen – beispielsweise im Familienstammbuch oder als Fahndungsfoto. Solche „Identifikationsfotos“ werden seit langem verwendet, um Bürgerinnen und Bürger nach Beruf, sozialer Gruppe, Körperbau oder politischer Zugehörigkeit zu sortieren, zu normieren, zu klassifizieren und auszugrenzen.
In fünf thematische Abschnitte – Familie, Arbeit, Freizeit, Typen und Kontrolle – gegliedert, lenkt dieser Teil der Ausstellung die Aufmerksamkeit der Betrachterinnen und Betrachter auf verschiedene Fragen im Umgang mit Identifikationsfotos, einschließlich der sich wandelnden Vorstellungen von Arbeit und Freizeit, Geschlechterrollen, Sexualität und ethnischer Zugehörigkeit. Die Art und Weise, wie Individuen innerhalb bestimmter sozialer Systeme dargestellt und positioniert werden, stellt sowohl die Einzigartigkeit des konventionellen Porträts als auch die Vorstellung von einem stabilen, authentischen Selbst in Frage.
Die Familie, die grundlegende soziale Einheit der Moderne, erfuhr durch die neuen Möglichkeiten der fotografischen Repräsentation eine wichtige Stärkung. Ob als Gruppenbild oder als Sammlung von Einzelporträts, die Fotografie ermöglichte es Familien, ihre Genealogie in einem einzigen Bild oder Familienalbum festzuhalten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Familienalbum zu einem beliebten Medium, um Familientreffen, gemeinsame Rituale, Reisen und Erlebnisse auf kreative Weise aufzuzeichnen, sowie zu einem wichtigen Ausdruck der familiären Zusammengehörigkeit und Selbstdefinition.
Im 19. Jahrhundert posierten Arbeiter und Handwerker auf Studio-Fotografien und Ferrotypien oft stolz mit ihren Arbeitsgeräten und Werkzeugen. Diese Berufsbilder waren Ausdruck des sozialen und beruflichen Status. Im 20. Jahrhundert spielten fotografische Ausweise, ID-Plaketten und Zugangsgenehmigungen an vielen Arbeitsplätzen eine wichtige Rolle, insbesondere wenn es um Fragen der Sicherheit und Überwachung ging. Wie man an den Panorama-Aufnahmen von Bergleuten in den Appalachen sieht, ließen aber auch Arbeiterinnen und Arbeiter häufig Gruppenfotos von sich anfertigen – als Repräsentation ihrer gemeinschaftlichen Arbeit und kollektiven Identität.
Fotografien erlauben eine genaue Dokumentation, dienen aber auch der Unterhaltung. Sie können Berühmtheiten ebenso abbilden wie alltäglichen Spaß und Vergnügen. Schon in den 1890er Jahren – vor dem Aufkommen der Fotografie als Massenmedium – hatten Menschen, die sich porträtieren ließen, ein breites Spektrum an Möglichkeiten, ihre Selbstdarstellung zu beeinflussen und so ihre Persönlichkeit und kulturelle Identität zum Ausdruck zu bringen. In den Fotostudios konnten die Kundinnen und Kunden stolz oder humorvoll in Kleidern und Requisiten ihrer eigenen Wahl posieren. Auf Jahrmärkten und an touristischen Sehenswürdigkeiten stellten die Fotografen manchmal cartoonartige Kulissen zur Verfügung, um die Darstellungsmöglichkeiten spielerisch zu erweitern.
Stereotypische oder entmenschlichende Bilder wurden regelmäßig als Mittel zur Unterwerfung und Kontrolle anderer Kulturen oder Gemeinschaften einge-setzt. Im 19. Jahrhundert teilten Anthropologen und Sozialwissenschaftler soziale Gruppen häufig in „Typen“ ein, die anhand von ethnischen oder kulturellen Ähnlichkeiten bestimmt und dann in Fotos als repräsentative Beispiele dargestellt wurden. Solche typologischen Fotografien indigener Personen wurden häufig in idealtypischen Studiokulissen aufgenommen und teilweise über Kleidung und Darstellung zusätzlich sexualisiert. Über Massenmedien wie touristische Ansichtskarten wurden diese „Typen“ als Bilder in Umlauf gebracht, die die gesamte Kultur repräsentierten und diese auf primitive Weise als andersartig markierten.
Fotos zur Identifizierung und Gesichtserkennung spielen in den meisten Archiven der staatlichen Verwaltung und bei polizeilichen Ermittlungen eine zentrale Rolle. Vom Führerschein bis zum Fahndungsfoto ermöglicht das standardisierte Porträtfoto den Vergleich eines Gesichts mit einem anderen anhand physiognomischer Unterschiede. Für solche Identifikationsfotos ist der Charakter der abgebildeten Person – das wichtigste Element eines klassischen Porträts – unbedeutend. Standardisierte Fahndungsfotos, wie die hier gezeigten, wurden entwickelt, um Kriminelle anhand von Gesichtszügen und Körperformen zu identifizieren und den Charakter einer Person aufgrund ihres Aussehens oder im Vergleich zu einem statistischen Mittelwert zu beurteilen.
Die Fotografie ist nicht nur ein Bild, sondern immer auch ein physisches Objekt. Aus ihrer Materialität lassen sich wichtige Erkenntnisse und interessante Einsichten gewinnen. Die hybriden Objekte, die in diesem Bereich der Ausstellung gezeigt werden, erweitern vernakulare Fotografien von Personen ins Dreidimensionale und verwandeln gewöhnliche Porträtfotos in kreative Dekorationsgegenstände – darunter Skulpturen aus Mexiko, ein Puzzle, eine Brotkiste voller anzüglicher Bilder, ein herzförmiger Aschenbecher und fotografische Standfiguren. Diese Objekte, die sowohl laienhaft als auch professionell hergestellt wurden, wirken wie Werke der „Outsider Art“ und zeugen von einem ganz ungezwungenen und eigenwilligen Umgang mit den Fotos, die sie verarbeiten.
Fotoalben sind faszinierende Objekte, die verdeutlichen, wie Menschen ihre persönlichen Erinnerungen, Geschichten und auch die eigene Identität formen und bewahren. Das Schwarze Haus zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass Fotoalben nicht nur der Dokumentation bedeutender Lebensereignisse wie Hochzeiten, Familienfeiern oder Reisen dienen, sondern gleichzeitig auch ein Mittel der Selbstdarstellung sind, welches dabei hilft, persönliche Erinnerungen und die eigene Identität entsprechend den individuellen Vorstellungen zu inszenieren.
Ähnlich den heutigen Sozialen Medien stellten historische Fotoalben oft eine idealisierte Version der Realität dar. Sie konzentrieren sich auf die glücklichen Momente, besonderen Erfolge und schmeichelhaftesten Ansichten, während sie die weniger schönen Ereignisse ausblenden. Die selektive Darstellung zielt darauf ab, ein positives Bild für die Nach- und Außenwelt zu inszenieren, welches eher die eigenen Wünsche und Idealvorstellungen als die objektiven Realitäten widerspiegelt.
Fotoalben dienen nicht nur als Aufbewahrungsort für private Erinnerungen, sondern dokumentieren auch historische Ereignisse, persönliche Leidenschaften sowie popkulturelle Phänomene und geben dadurch Einblicke in das politische und soziale Klima ihrer Zeit – oft in beeindruckender Fülle und Tiefe, weshalb diese handlichen Bildarchive heute auch eine wichtige Quelle für die Geschichtswissenschaft darstellen.
Seit dem Aufkommen der Massenmedien im frühen 20. Jahrhundert hat die Fotografie die gesellschaftliche Wahrnehmung von individueller Identität und Andersartigkeit tiefgreifend beeinflusst. Die zahlreichen Bilder, die wir täglich in der Nachrichtenberichterstattung, in den Sozialen Medien, Magazinen und Werbeanzeigen konsumieren, prägen unsere Vorstellungen davon, wie wir leben, aussehen und uns verhalten sollten – vor allem, wenn es um Geschlechteridentitäten geht.
So sehr die Fotografie ein Instrument der Kontrolle und Normierung sein kann, so sehr kann sie auch als Freiraum, Bühne und Safe Space für Menschen fungieren, die sich jenseits der konventionellen heteronormativen Geschlechterrollen verorten. Unterteilt in drei thematische Schwerpunkte – „Versionen von Weiblichkeit“, „Selbsterfahrungen“ und „Jenseits von Stereotypen“ – zeigt das Graue Haus die Fotografie als kritisches Mittel zur Untersuchung und Dekonstruktion traditioneller Konzepte von Geschlecht und Sexualität.
Marginalisierte Gruppen, insbesondere innerhalb des LGBTQIA+- Spektrums, nutzen die Fotografie als ein Instrument der Selbstermächtigung. Mit Hilfe von Selbstporträts übernehmen sie die Kontrolle über ihre eigene Darstellung, stellen stereotype Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität in Frage und bieten alternative Perspektiven, die Vielfalt und Inklusion feiern. Solche Selbstporträts unterstützen die persönliche Entwicklung auf der Grundlage individueller Bedürfnisse und bieten dem Individuum die Möglichkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstvergewisserung. Obwohl sie dabei teilweise die sexuell aufgeladenen Posen reproduzieren, die in den Massenmedien immer wieder verwendet werden, stellen sie gleichzeitig die etablierte binäre Geschlechterordnung in Frage, indem sie den performativen Charakter von Sexualität und Geschlecht betonen.
Die Art und Weise, wie afrikanische Personen fotografisch dargestellt werden, hat einen erheblichen Einfluss darauf, wie sie von anderen gesehen werden und wie sie sich selbst wahrnehmen. Die Ausstellung im Grünen Haus betrachtet Aspekte afrikanischer Identität im Kontext des europäischen Kolonialismus und geht dabei auf vier historische Phänomene ein: die von europäischen Fotografen angefertigten „Cartes de Visite“ aus der Mitte des 19. Jahrhunderts; Postkarten aus dem frühen 20. Jahrhundert, die afrikanische „Typen“ für ein europäisches Publikum illustrierten; die emanzipatorischen Porträts von S. J. „Kitty“ Moodley aus der Zeit der Apartheid; und die Diashow des zeitgenössischen Fotografen Santu Mofokeng aus dem Jahr 1997 mit dem Titel The Black Photo Album/ Look at Me.
Mit seinem Werk The Black Photo Album/ Look at Me präsentiert Mofokeng eine Methode, um über den historischen Gebrauch und die zeitgenössische Bedeutung vernakularer Fotografie nachzudenken. Indem er gefundene Familienfotos aus dem frühen 20. Jahrhundert zeitgenössischen kritischen Überlegungen gegenüberstellt, fragt Mofokeng: „Sind diese Bilder ein Beleg mentaler Kolonisierung oder dienten sie dazu, das in der westlichen Welt vorherrschende Bild vom ‚Afrikaner‘ in Frage zu stellen?“
Im Dialog mit Mofokengs Diashow stehen ältere historische Darstellungen afrikanischer Personen, die von kolonialen Fotografen inszeniert wurden und die außergewöhnlichen Studioporträts des Fotografen „Kitty“ Moodley, die in den 1970er Jahren in Südafrika entstanden sind. Diese Porträts, die während der Apartheid aufgenommen wurden, zeigen arme und aus der Arbeiterklasse stammende Menschen, die mit traditionellen und modernen Kleidungsstilen spielen und die gesellschaftlich akzeptierten Familien-, Ethnien- und Geschlechterrollen in Frage stellen.
Wer wir sind: Porträts und vernakulare Fotografie ist der Höhepunkt einer jahrelangen Erkundung der vernakularen Fotografie durch die von Brian Wallis kuratierte Ausstellungsreihe Imagining Everyday Life: Aspects of Vernacular Photography. Diese war von 2017 bis 2019 im ehemaligen Project Space von The Walther Collection in New York zu sehen und umfasste auch ein zweitägiges internationales Symposium an der Columbia University im Jahr 2018 sowie einen umfassenden wissenschaftlichen Sammelband, der 2020 mit dem Paris Photo-Aperture Foundation-Preis für den Fotokatalog des Jahres ausgezeichnet wurde.
2018 veranstalteten The Walther Collection, The Center for the Study of Social Difference der Columbia University und The Barnard Center for Research on Women Imagining Everyday Life: Engagements with Vernacular Photography – ein zweitägiges Symposium im Lenfest Center for the Arts an der Columbia University, das von Tina Campt, Marianne Hirsch und Brian Wallis organisiert wurde. Ziel des Symposiums war es, die Bedeutung oft übersehener Praktiken nicht-künstlerischer Fotografie zu untersuchen und ihre sozialhistorischen Hintergründe nachzuzeichnen, um schließlich die vielfältigen Definitionen der vernakularen Fotografie kritisch zu hinterfragen und eventuell zu aktualisieren. Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen referierten über fotografische Objekte und Bilder aus Alltagskontexten und stellten neue Ansätze vor, um Erkenntnisse über die Wechselwirkungen von Fotografie, politischen Strömungen, sozialen Werten und Normen sowie privaten Alltagsritualen zu gewinnen.
Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gehörten: Ariella Azoulay, Geoffrey Batchen, Ali Behdad, Elspeth H. Brown, Tina M. Campt, Clément Chéroux, Lily Cho, Nicole R. Fleetwood, Sophie Hackett, Patricia Hayes, Marianne Hirsch, Gil Hochberg, Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Thy Phu, Leigh Raiford, Shawn Michelle Smith, Drew Thompson, Brian Wallis, Laura Wexler und Deborah Willis.
In diesem umfangreichen Katalog, welcher der wissenschaftlichen Betrachtung vernakular Fotografie gewidmet ist, untersuchen die Autorinnen und Autoren die Rolle der Produzenten, Sammler, Subjekte und Betrachter von nicht-künstlerischen Fotografien und beleuchten die sozialen Funktionen, die diese Bilder erfüllen. Diese neue Herangehensweise an das Thema der vernakularen Fotografie schreibt die Geschichte der Fotografie um und ergänzt sie um Objekte, Narrative und Fragen, die bislang ignoriert wurden.