5.5.2019 — 27.10.2019
Mit Then and Now: Life and Dreams Revisited setzt The Walther Collection die Erkundung chinesischer Fotografie fort. Life and Dreams: Zeitgenössische chinesische Fotografie und Medienkunst, kuratiert von Christopher Phillips, zeigte 2018 die erste umfangreiche Präsentation von Werken chinesischer Künstlerinnen und Künstlern aus den sammlungseigenen Beständen.
Then and Now vereint Reisefotografie aus dem frühen 20. Jahrhundert mit wegweisenden Arbeiten von 31 international renommierten Künstlerinnen und Künstlern wie Ai Weiwei, Song Dong, Yang Fudong, RongRong und Zhang Huan und Neuankäufen einer jüngeren Künstlergeneration wie Lin Zhipeng und Lu Yang. Die Gegenüberstellung von historischer und zeitgenössischer Fotografie veranschaulicht die epochalen Veränderungen, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur die ländlichen und urbanen Lebensräume Chinas, sondern auch wesentliche Aspekte sozialer Beziehungen und des alltäglichen Lebens umgestalteten.
Im Grünen Haus vermittelt eine Auswahl von Stereografien Eindrücke aus den letzten Jahren der Qing-Dynastie (1644–1912) und dokumentiert dabei eine der folgenreichsten Umbruchphasen in der Geschichte des Landes. Der Sieg der Briten im ersten Opiumkrieg (1839–1842) führte bereits zur Auflösung Chinas selbstgewählter wirtschaftlicher Isolation gegenüber Europa. Nach der erneuten Niederlage Chinas im zweiten Opiumkrieg (1856–1860) besetzten die westlichen Mächte zahlreiche Häfen sowie Stadtteile im gesamten Land, um so ihre Einflussnahme und Handelsnetze auszubauen. Die drastischen wirtschaftlichen Folgen der beiden Opiumkriege führten zu einer weit verbreiten antiimperialistischen Stimmung, die schließlich Chinas 4000 Jahre altes Feudalsystem stürzen und die Forderungen nach Modernisierung in allen Lebensbereichen stärken sollte. Mit der Abdankung des letzten chinesischen Kaisers im Zuge der Xinhai-Revolution von 1911 und der Gründung der Republik China im Jahr 1912 endete die Geschichte des chinesischen Kaiserreiches.
Die ausgestellten Stereografien reflektieren diesen massiven Zeitenwandel nur subtil, indem sie beispielsweise die Botschaftsgebäude an der Uferpromenade Shanghais, die von den Kolonialmächten erbaute Eisenbahn oder Chinesinnen und Chinesen im Umgang mit westlichen Erfindungen wie dem Edison-Phonographen zeigen. Über den Ursprung dieser Aufnahmen ist wenig bekannt. Die abgebildeten Frisuren, Kleidungsstücke und Gerätschaften, sowie die fotografierten Landschaften und Orte lassen vermuten, dass die Serie in den Jahren zwischen 1910 und 1920 auf den Reisen eines europäischen oder amerikanischen Fotografen entstand. Ihr Reichtum an Details, ihre Schärfe und ihre Qualität sind außergewöhnlich für Bilder aus jener Zeit. Auch die Motivwahl geht über das damalige, im Westen oft oberflächliche Interesse am Exotischen und Bizarren hinaus. Die erhaltenen 138 Aufnahmen dokumentieren neben klassischen Sehenswürdigkeiten wie die Chinesische Mauer oder den Yunyan-Tempel in Suzhou das alltägliche Leben der Menschen im urbanen und ländlichen China in eindrucksvollen Porträtfotos sowie in zahlreichen Aufnahmen von belebten Straßenszenen, traditionellen Tempeln und Statuen, landwirtschaftlichen Aktivitäten und Werkzeugen.
Einen radikalen Kontrast dazu bilden die Arbeiten des Künstlers Lin Zhipeng, die sich der Erforschung von Geschlechterrollen und Sexualität, queeren Beziehungen sowie der urbanen Jugendkultur Chinas widmen und in einer von Simon Baker kuratierten Sonderausstellung im Obergeschoß des Weißen Kubus zu sehen sind. 1979 in der Provinz Guangdong geboren, zählt Lin zu den wichtigsten Figuren der zeitgenössischen chinesischen Fotografie. Nach seinem Studienabschluss in Financial English, wirkte er als Redakteur und Autor für zahlreiche Kreativ- und Modemagazine wie VICE und iLOOK mit. Heute lebt und arbeitet er als Fotograf und freier Autor in Beijing.
Lin Zhipeng ist der Kunstwelt vor allem unter dem Pseudonym 223 bekannt, das auf der Figur des liebestrunkenen Polizisten basiert, den Takeshi Kaneshihiro in Wong Kar-Wais Kultklassiker Chungking Express im Jahr 1994 spielte. Seine Liebe zum Kino spiegelt sich auch in seinen fotografischen Portfolios, die von der Ästhetik des Films, einer poetischen und verträumten Atmosphäre sowie der Einsamkeit, Melancholie und Mystik vieler Filmcharaktere beeinflusst sind. Sein im Jahr 2003 gegründeter Blog "North Latitude 23" sorgte weltweit für Aufmerksamkeit und bot 223 eine Plattform, um seine Kunst zu teilen und zu kommunizieren. Bis heute dokumentiert er seinen Alltag und das Leben seiner Freunde in fantasievoller und ungewöhnlich intimer Weise. Ergänzt durch persönliche Notizen, entsteht ein privates Tagebuch einer jungen Generation, die dem Druck der chinesischen Gesellschaft zu entgehen und ihre Grenzen auszuloten versucht.
Inspiriert durch Werke von Guy Bourdin, Wolfgang Tillmans und Jürgen Teller, gewährt 223 einen sehr persönlichen Blick auf eine alternative Jugendkultur, die in einem Spannungsverhältnis zu den gesellschaftlich auferlegten, konservativen Werten Chinas steht. Von einem hohen Maß an Intuition geprägt und spontan aufgenommen, zeigen seine Fotografien eine junge Generation, schwankend zwischen Ausgelassenheit, Angst und tiefer Melancholie, geleitet von dem simplen menschlichen Bedürfnis, in einer ansonsten gleichgültigen und sich ständig verändernden Gesellschaft geliebt zu werden. Nonchalance und Verspieltheit kennzeichnen seine Bildsprache und vermitteln gleichzeitig ein Gefühl von Trauer und Verletzlichkeit. In Kombination mit seinem Talent für Improvisation und einer scharfen ästhetischen Sensibilität für seine Modelle gelingt 223 über träumerische Szenen voller Leichtigkeit ein Gegenentwurf zu dem stereotypischen Image einer allein auf Leistung und Gehorsam ausgerichteten chinesischen Kultur.
Der Weiße Kubus sowie das gesamte Schwarze Haus präsentieren Schlüsselwerke der letztjährigen Ausstellung Life and Dreams und zeigen innovative und emotional aufgeladene Fotoarbeiten und Videoinstallationen, die als Reaktion auf die drastischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche der vergangenen drei Jahrzehnte entstanden sind. Die in Unterthemen gegliederte Ausstellung zeigt komplexe, oft provokante Einzelperspektiven, die sich mit einem breiten Spektrum an Themen auseinandersetzen: von der Neuinterpretation klassischer Artefakte über die Vermessung der gebauten Umwelt bis hin zu technologischen Dystopien und der Kritik an politischem Autoritarismus.
Die Gegenüberstellung von älteren fotografischen Arbeiten und Beispielen aktueller chinesischer Fotografie und Medienkunst offenbart überraschende Echos, Kontinuitäten und Differenzen, die in der Einzelbetrachtung nicht wahrnehmbar sind. Life and Dreams beleuchtet so die wichtigsten Strömungen und Errungenschaften chinesischer Fotografie und Medienkunst und dokumentiert die bemerkenswerte Geschwindigkeit, mit der sich diese seit den frühen 1990er Jahren als bedeutende Genres in der experimentellen chinesischen Kunst etabliert haben.
""Si Zi" heißt auf Mandarin "privat" – die Schau in Neu-Ulm bringt einiges von dieser Privatheit ans Licht. Selbstironisch, kritisch, ernst, beiläufig schön und mit vollem Körpereinsatz."
"Die Fotografien und Videos zeigen ein China-Bild, das gar nicht nach dem Geschmack des Regimes ist. Die Künstler, darunter bekannte Namen wie Ai Weiwei, behandeln Themen wie die rücksichtslose Urbanisierung, die Tibet-Politik, die Folgen der Kulturrevolution, die Armut auf dem Land oder auch Prostitution. Die Walther Collection zeigt ein China der brutalen Widersprüche – durch die Augen von Fotokünstlern internationalen Formats: Die Ausstellung hat durch die Ergänzungen noch gewonnen."