16.4.2023 — 12.11.2023
The Walther Collection setzt ihren Fokus auf zeitgenössische Fotografie aus Afrika fort und präsentiert auf ihrem Museums-Campus in Neu-Ulm die erste dialogische Ausstellung mit Werken von Santu Mofokeng (1956-2020) und David Goldblatt (1930-2018). Die von der Kunsthistorikerin Tamar Garb kuratierte Ausstellung, die ausschließlich aus den Beständen der Sammlung zusammengestellt wurde, eröffnet dynamische Räume für Neubewertung und Neudeutung, indem sie die Werke dieser außergewöhnlichen Fotografen miteinander verwebt.
Dieser einzigartige kuratorische Ansatz ist um drei übergreifende Themen und Unterkapitel strukturiert und ermöglicht durch die Zusammenstellung überraschender Gegenüberstellungen und Juxtapositionen neue Erkenntnisse und Perspektiven auf das Oeuvre von Mofokeng und Goldblatt. Beide Männer setzten sich zum Ziel, das alltägliche Leben und die Erfahrungen in Südafrika während der Apartheid und ihrer Folgen abzubilden. Doch während sie oft gegeneinander positioniert werden, wobei Goldblatt als einfühlsamer Dokumentarist und Mofokeng als visionärer Dichter verstanden wird, zielt diese Ausstellung darauf ab, eine solche Trennung in Frage zu stellen und es den Bildern zu ermöglichen vorgefertigte Labels und Wahrnehmungsmuster zu überwinden. Durch die neuartige Kombination ihrer Werke zielt die Ausstellung darauf ab, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen herauszuarbeiten, während gleichzeitig die Dualismen, durch welche sie gewöhnlicherweise betrachtet werden, in Frage gestellt werden.
Die Ausstellung ist in drei thematische Abschnitte unterteilt, die Mofokengs und Goldblatts Werke vereinen: Erdlandschaften, Strukturen und Sozialität.
Erdlandschaften befasst sich mit Mofokengs und Goldblatts fotografischen Erkundungen von Landschaft und untersucht, wie die Topografie durch Kultur und menschliche Besiedlung beeinflusst wird. Das Erscheinungsbild der Landschaft wird stets von den Ereignissen geprägt, die sich in ihr ereignet haben. Beide waren fasziniert von den Spuren und Rückständen der Vergangenheit, die auf der Oberfläche des Landes eingeprägt und in den Formen eingraviert sind. Unter dem Einfluss politischer, ökologischer und historischer Kräfte offenbart die Landschaft gleichzeitig ihre Geschichte und verbirgt sie. Sowohl Goldblatt als auch Mofokeng erforschten, wie eine Fotografie dazu in der Lage ist, die schichtweisen Ablagerungen der Zeit und den durch gesellschaftliche Faktoren beeinflussten Raum des Landes hervorzurufen.
Strukturen beschäftigt sich mit südafrikanischen Behausungen, ihren typischen Konfigurationen sowie den sozialen Gefügen und Situationen - auf der Straße, am Hang, am Rande. Die Werke von Goldblatt und Mofokeng erforschen, was „Zuhause“ definiert und welche Kräfte diesen Raum - physisch und psychisch - leicht und rücksichtslos zerstören können. Die Fragilität und Prekarität von Schutzräumen, zusammen mit denjenigen, die sie errichten und bewohnen, werden erkundet. Ebenso werden die undurchdringlichen Strukturen des „Weißsein“ und die fragilen Behausungen der bedürftigen Schwarzen Bevölkerung beleuchtet, die stets den Launen und Gewalttätigkeiten der politischen Bürokratie und Machtstruktur ausgesetzt sind. Die Straßen mit ihren unzähligen Schildern fungieren als Ort der sozialen Interaktion und porträtieren das Land auf eine besondere Weise. Beide Fotografen beschäftigen sich mit der Frage, wie sich die segregierte Vergangenheit auf die Mobilität der Menschen im Rahmen der städtischen Infrastruktur und darüber hinaus auswirkt. Beide werfen aber auch einen Blick hinter die offiziellen Narrative—auf Elemente, die sich Erwartungen entweder widersetzen oder diese übertreffen.
Sozialität untersucht, wie soziale Erfahrungen in der Fotografie ausgelebt werden. Dieser Abschnitt umfasst Bilder von Menschen, oft in Gruppen, und beleuchtet die Kontakte und Kontexte, die diese teilen—in privaten Innenräumen, auf dem täglichen Weg in die Arbeit, beim Gebet oder beim Verweilen in der Stille. Mit einem Spektrum von der forensischen Detailgenauigkeit einer inszenierten Aufnahme bis hin zur zufälligen Erfassung von Bewegung und Fluss halten diese Fotografien die Fremdartigkeit, die im täglichen Leben verwurzelt ist, fest. Die Fotografien fangen die Fremdartigkeit des Alltags ein, die oft im Halbdunkel oder im Schatten zutage tritt, jedoch stets den äußeren Strukturen und Anforderungen des Gesetzes unterworfen bleiben. Für Goldblatt und Mofokeng ist das oberflächliche Erscheinungsbild eine Verbindung zum inneren Leben, zu den Rhythmen von Dunkelheit und Helligkeit, Schatten und Licht, die sich mobilisieren lassen, um individuelle Empfindungen und Subjektivität offenzulegen—obgleich sie stets durch historische Gegebenheiten geprägt sind.
Santu Mofokeng (1956–2020) wurde in Johannesburg geboren. Seine Laufbahn als Straßenfotograf begann im Soweto der frühen 1980er-Jahre. Kurzzeitig war er auch als Fotoreporter für die alternative Lokalzeitung New Nation tätig. 1985 trat er als ehemaliger Schüler David Goldblatts dem berühmten Fotografenkollektiv Afrapix bei (1985–1992).
Während seiner Tätigkeit als Dokumentarfotograf und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Advanced Social Research an der Witwatersrand-Universität (1988–98) stellte Mofokeng sein renommiertes und mehrfach ausgestelltes Projekt The Black Photo Album/Look at Me: 1890–1950 fertig, eine umfassende Sammlung von lokal in Auftrag gegebenen Familienporträts, die als Alternative zu offiziellen, staatlich beauftragten südafrikanischen Fotografien präsentiert wurden. Seine fotografische Praxis stellt sich gegen die Idee, dass Fotografie nur das reproduziert, was sichtbar ist: er konzentriert sich auf das Poetische, Vergängliche, Spirituelle. In seinem fotografischen Essay Trauma Landscapes vertieft Mofokeng die künstlerische Erkundung von historisch bedeutsamen Orten, die auch traumatische Erinnerungen in sich tragen, und zeigt auf, dass die Wahrnehmung von Landschaft nicht nur von persönlichen Erfahrungen, Mythen und Erinnerungen geprägt ist, sondern auch von „Ideologie, Indoktrinierung, Projektionen und Vorurteilen.“
Mofokeng erhielt 1991 das Ernest Cole-Stipendium und studierte am International Centre for Photography in New York. 1992 nahm er als erster Afrikaner den Mother Jones Award entgegen. 1998 wurde ihm das Künstlerhäuser Worpswede Fellowship verliehen, gefolgt vom DAAD Fellowship im Jahr 2001 (beides Deutschland). 2002 nahm er an der documenta 11 in Kassel, Deutschland teil. 2002 und 2009 wurde er für den Prince Claus Fund Laureate for Visual Arts nominiert. 2016 wurde ihm ein Ehrendoktorat der Witwatersrand-Universität verliehen. Seine erste internationale Retrospektive Chasing Shadows— Thirty Years of Photographic Essays war erstmals 2011 im Jeu de Paume in Paris, Frankreich zu sehen, in weiterer Folge auch in der Kunsthalle Bern, Schweiz; in der Bergen Kunsthall, Norwegen, und im Wits Art Museum in Johannesburg, Südafrika. Mofokeng war einer der Mitgestalter des deutschen Pavillons bei der 55. Biennale in Venedig im Jahr 2013. 2016 war er der erste Empfänger des International Photography Prize, der von der Fondazione Fotografia Modena und Sky Arte HD gestiftet wurde. 2019 kamen bei Steidl seine gesammelten Werk in 18 Bänden heraus.
David Goldblatt (1930–2018) kam in Randfontein, einer kleinen Bergarbeiterstadt außerhalb von Johannesburg, Südafika, als Sohn jüdischer Einwanderer aus Litauen zur Welt.
Kurz nach seinem Schulabschluss im Jahr 1948 begann er, die Menschen, Architekturen und Landschaften seines Landes zu dokumentieren, von den Anfängen des Afrikaner-Nationalismus über das Regime der Apartheid bis hin in die demokratische Ära. Goldblatt dokumentierte insbesondere die Bevölkerung, Landschaft und Industrie von Witwatersrand, der rohstoffreichen Region, in der er aufgewachsen war und lebte, und in der der Bergbau den wichtigsten Wirtschaftszweig darstellte. Goldblatts Themen umfassten das Land in seiner Gesamtheit, sowohl in geographischer als auch in politischer Hinsicht, von der weitläufigen Wüstenlandschaft der Karoo bis hin zu den beschwerlichen Arbeitswegen der schwarzen Arbeitsmigranten, die während der Apartheid gezwungen waren, in ethnisch segregierten Distrikten zu leben. Seine umfassendste Reihe, die sechs Jahrzehnte fotografisch dokumentiert, widmet sich der Frage, wie südafrikanische Werte durch „Strukturen des öffentlichen Lebens“ ihren Ausdruck finden, sowohl in physischer als auch in ideologischer Hinsicht.
Im Jahr 1989 gründete Goldblatt den Market Photography Workshop, eine renommierte Lehrstätte für angehende Fotografen und Fotografinnen in Johannesburg. Als erster Südafrikaner bestritt Goldblatt 1998 eine Einzelausstellung am Museum of Modern Art in New York. 2001 ging eine Retrospektive seiner Arbeiten international auf Tournee. Goldblatt war einer der wenigen südafrikanischen Künstler, deren Werke bei der documenta 11 (2002) und der documenta 12 (2007) in Kassel, Deutschland, gezeigt wurden. Zu seinen wichtigsten Einzelausstellungen gehörten die im Jewish Museum und im New Museum in New York. Seine Arbeiten wurden auch im Rahmen von Gruppenausstellungen im San Francisco Museum of Modern Art, im Barbican Centre in London und als Teil der ILLUMInations bei der 54. Biennale in Venedig im Jahr 2011 gezeigt. Goldblatt veröffentlichte mehr als zwanzig preisgekrönte Bücher. Im letzten Jahr seines Lebens fanden zwei groß angelegte Werksretrospektiven statt, und zwar im Centre Pompidou in Paris und im Museum of Contemporary Art in Sydney. 2006 wurde er mit dem Hasselblad Award und 2009 mit dem Henri Cartier-Bresson Award ausgezeichnet. 2013 erhielt er den ICP Infinity Award und 2016 den Commandeur l’Ordre des Arts et des Lettres des französischen Kulturministeriums. Das Goldblatt-Archiv, welches aus mehr als 100.000 Negativen besteht, befindet sich an der Yale University in New Haven, Connecticut, USA.
Die Werke von Santu Mofokeng und David Goldblatt sind ein zentraler Bestandteil The Walther Collection, einer der weltweit größten privaten Sammlungen afrikanischer Fotografie. Beide Künstler wurden in zahlreichen Ausstellungen der Sammlung in Neu-Ulm und New York City präsentiert sowie in Wanderausstellungen gezeigt, die international tourten.
Tamar Garb ist Durning Lawrence Professor of the History of Art am University College London, ein Fellow der British Academy; Kunsthistorikerin, Kritikerin und Kuratorin. Sie ist Absolventin der Michaelis School of Fine Art, University of Cape Town und des Institute of Education, University of London. Ihr Ph.D in Kunstgeschichte wurde ihr 1991 am Courtauld Institute of Art verliehen. Tamar Garb hat zahlreiche Arbeiten zu Themen wie Gender und Sexualität, Ethnizität, und Repräsentanz publiziert, sowohl in Bezug auf die europäische Moderne als auch die künstlerische und visuelle Kultur Südafrikas. Zu ihren bedeutendsten Publikationen zählen Sisters of the Brush (1994); The Jew in the Text (1996); Bodies of Modernity (1998); The Painted Face (2007) und The Body in Time (2008). Ihre kuratorischen Projekte umfassen Homelands/ Land Marks: Contemporary South African Art, Haunch of Venison Gallery, London (2008); Figures & Fictions: Contemporary South African Photography, V&A, London (2011); Distance and Desire: Encounters with the African Archive, The Walther Collection, New York und Neu-Ulm (2014); Conversations in Letters and Lines: William Kentridge and Vivienne Koorland, Fruitmarket Gallery, Edinburgh (2016); und Made Routes: Berni Searle and Vivienne Koorland, Richard Saltoun Gallery, London (2018). Zudem hat sie zu modernen/zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen Texte verfasst, darunter Alice Neel, Lee Lozano, Constance Stuart-Larrabee, Marlene Dumas, Christian Boltanski, Mona Hatoum, Lebohang Kganye, Sethembile Msezane, Zanele Muholi und Berni Searle. Aktuell liegt ihr Fokus auf Archiven, Ästhetik, historischer Gewalt und der Produktion von Kunst sowie von Texten zum modernen Afrika und seiner Diaspora.
Ein wunderbarer Videobeitrag über die beiden aktuellen Ausstellungen der Walther Collection: "Trace - Formations of Likeness" im Haus der Kunst München und "Beyond the binary"/"Seite an Seite - Santu Mofokeng und David Goldblatt" in den eigenen Museumswänden in Burlafingen.
Bei aller Unterschiedlichkeit enthüllt die dialogische Schau, indem sie die beiden Künstler ohne Ansehen der Person nur thematisch gruppiert, wie ähnlich und wie nah sie sich sind.
Die Londoner Kunsthistorikerin und Kuratorin Tamar Garb lässt in ihrer Ausstellung die Zuordnung von Werk und Autor verschwimmen.
Umfassend wie nie im Münchner Haus der Kunst, konzentriert auf dem Campus in Burlafingen: Die neuen Ausstellungen „Traces“ und „Seite an Seite“ zeigen die Breite, Tiefe und Qualität der Walther Collection.