Frankreich und Marokko, geb. 1971; lebt und arbeitet in New York, USA
Das Werk Yto Barradas beobachtet Identität und Immigration als angespannte Wirklichkeiten, die den Alltag von Tanger bestimmen. Die Künstlerin kam in Paris als Kind von marokkanischen Eltern zur Welt und erhielt ihre Ausbildung in Tanger sowie an der Sorbonne in Paris und am International Center of Photography in New York. Barradas Sujets konzentrieren sich vorwiegend auf Tanger, die Stadt am westlichen Rand der Meerenge von Gibraltar, die Afrika und Europa trennt. Ihre Fotografien und Videos sind von einer geisterhaften Stille. Die junge Frau in Barradas Girl In Red (Playing Jacks) (1999) zum Beispiel schaut weg oder vielmehr irgendwo anders hin. Das Mädchen steht ein wenig links vom Bildzentrum, positioniert vor einer prächtigen, farbenfrohen, aber auch bröckelnden Wand aus Mosaikkacheln irgendwo in Tanger. Es dreht den Betrachtenden den Rücken zu. Vollkommen versunken in das Spiel, das sie betrachtet, steht die junge Frau leicht nach vorne und mit ihren Beinen gegen den unteren, vorspringenden Teil der Mauer gelehnt, während die Zeit allmählich vergeht. Solche Gesten ziehen sich durch Barradas ganze Serie A Life Full of Holes: The Strait Project (1998–2004), zu der Girl In Red (Playing Jacks) gehört. Sie selbst beschreibt ihr Projekt als den Versuch, "den metonymischen Charakter der Meerenge in einer Serie von Bildern zu verdeutlichen, die die Spannung zwischen dem allegorischen Wesen der Wasserstraße und der unmittelbaren, harschen Realität zum Ausdruck bringen – eine Spannung, die die Straßen meiner Heimatstadt beständig in Atem hält". Seit Spanien und Portugal 1991 dem Schengener Abkommen beigetreten sind, ist die Schiffspassage von Marokko über die Straße von Gibraltar strengstens reguliert, und Tanger wurde, so Barrada, "zum Ziel und Sprungbrett von tausend Hoffnungen".
Ein ähnlicher Blick findet sich in Barradas Bildern von Schlafenden aus der Serie Sleepers. Die meisten dieser Schläfer*innen werden bäuchlings in öffentlichen Parkanlagen liegend gezeigt. Ihre Köpfe sind in ein Kleidungsstück gewickelt – kaum mehr als eine symbolische Geste, um ihren Schlaf vor dem Lärm der Außenwelt zu schützen. Diese Figuren halten kein gemütliches Nickerchen auf dem Rasen. Sie wirken vollkommen erschöpft, ausgelaugt und ausgebrannt. Barrada schreibt von den "burners" von Tanger, die – auf der Suche nach einem anderen Leben auf der anderen Seite der Meerenge – ihre Ausweispapiere "verbrannt" und mit dem Gesetz und den Konventionen einer Staatsangehörigkeit gebrochen haben: Diese schlafenden Figuren könnten sie darstellen. Sie ruhen sich aus, verdeckt und doch voll sichtbar. Ihre Präsenz suggeriert ein absichtsvolles Nichtdasein. Selbst im Schlaf gelingt es ihnen, den Blick woandershin zu richten.
– Edward A. Vazquez